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Revue : InterArtes, n° 7, 2025

Dirigée par: Laura Brignoli, Silvia Zangrandi

Dipartimento di «Studi Umanistici»

Università IULM - Milan

 

Faust, Mythos der Moderne

 

Der Mythos ist ein lebendiges Wesen, das sich entwickelt und wächst, indem er Interpretationen, Anregungen und Neuinterpretationen aufnimmt, in einem Prozess, den Hans Blumenberg als eine wahre Epigenese bezeichnet. Und die vielfältigen Erzählformen, die für die Moderne typisch sind, nähren sich vom Mythos, erneuern ihn ständig und schreiben ihn neu, je nach Epoche, aus einer religiösen, sozialen, ästhetischen, politischen oder Pop-Perspektive, bis hin zur Postmoderne.

Der Faust-Mythos ist der moderne Mythos, derjenige, der am meisten diesen Merkmalen entspricht. Es ist ein Mythos, der die Konflikte der gegenwärtigen Menschheit darstellt, hin und hergerissen zwischen Ehrgeiz und Schuld, zwischen Fortschrittsglauben und Selbstzerstörung, zwischen dem Bewusstsein der eigenen Grenzen und dem Traum der Überwindung aller Grenzen, zwischen der Kritik an der sozialen Ordnung und der Angst vor der Auseinandersetzung mit der Natur, zwischen dem Vertrauen in die Macht der Technik und dem Unbehagen vor der künstlichen Intelligenz.

Als emblematische Figur, die den menschlichen Ehrgeiz, den Wunsch nach Wissen und den Preis der Macht verkõrpert, hat der Faust-Mythos die Jahrhunderte durchschritten, sich an verschiedene historische, kulturelle und literarische Kontexte angepasst und dabei drei große Wandlungsphasen erlebt: die primitive Phase der Mythosbildung, die romantische Phase der Verherrlichung der Figur und die komplexere Phase des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart.

Im Gegensatz zu anderen Mythen, die aus mündlich überlieferten volkstümlichen Legenden stammen, hat der Faust-Mythos seinen Ursprung in einer realen Figur des 16. Jahrhunderts: dem Astrologen und Nekromanten Faust, einer ausdrucksvollen Gestalt, deren Handlungen zwischen Magie und illusionistischer Scharlatanerie pendeln. Im 16. Jahrhundert wurde er von den deutschen Volkslegenden umgestaltet und nahm während der Reformationszeit die ihn charakterisierende schweflige Aura an, bevor er dank Marlowes Werk, das ihn berühmt machte, in der Literatur seinen Platz fand. Die Figur erreichte ihren Höhepunkt mit Goethes Faust: Der erste Teil von 1808 und der zweite Teil von 1832 verwandeln den Mythos in ein universelles Epos, das die Spannung zwischen persönlichen Bestrebungen und moralischen Grenzen erforscht und eine komplexe und tiefgründige Vision der Menschheit bietet.

In der romantischen Epoche vollzieht sich eine erste Verwandlung des primitiven Faust: Einst Randfigur, die zunächst moralisch verurteilt wird, wird er zu einem Helden mit einem tragischen, aber begeisternden Schicksal. Die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts stellten ihm eine gleichwertige Gefährtin (Margarete oder Helena) zur Seite, die von nun an stets an seiner Seite steht, bis sie manchmal sogar die Rolle der Opferfigur übernimmt. Seit dem 20. Jahrhundert erhielt der Faust-Mythos eine Vielzahl von Neufassungen und Umarbeitungen.

Der Deutsche Raum ist die Wiege dieses Mythos: Seit dem erfolgreichen Prosaroman Historia von Doktor Johann Fausten des Buchdruckers Johann Spies im Jahr 1587 hat sich die Faust-Geschichte über die Jahrhunderte zu einem Mythos entwickelt, der für geografische Orte und kulturelle Traditionen durchlässig ist. Ab dem 18. Jahrhundert, mit Lessing, Klinger und Goethes Faust, nimmt die Geschichte, trotz verdeutschter Züge, immer mehr die Form des modernen Mythos des Abendlandes an. Goethe spielte mit seinem Faust eine entscheidende Rolle in der Verwandlung des Mythos; er hat die Figur der Tradition neu definiert, ihr universelle Aspekte verliehen und hat sie zu einem Symbol der Moderne gemacht. Die Figur des Faust, die sich bei Goethe über ferne geografische und zeitliche Horizonte bewegt, hat fortan weitere Metamorphosen ermöglicht. Im 20. Jahrhundert hat sie sich mit nationalen Themen und jenen der Gewalt (Hochhut), mit der deutschen Geschichte (Thomas Mann und Brecht) zu zeitgenössischen dramatischen Texten verknüpft. Robert Menasses Doktor Hoechst (2009) hat, wie Francesco Rossi schreibt, nicht zu einer Neuinterpretation des faustischen Mythos beigetragen, sondern zu einer faustischen Interpretation der Gegenwart.

In Frankreich finden sich faustische Anklänge bei Victor Hugo, Théophile Gautier, George Sand, Balzac, Villiers de l'Isle-Adam, Flaubert, aber vor allem im folgenden Jahrhundert finden sich die gelungensten Beispiele mit den Werken von Jarry, Ghelderode, Mac Orlan, Valéry, Giono, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, wenn man von den parodistischen Werken absieht, die ebenfalls Gegenstand einer Untersuchung sein könnten.

Goethes Faust hat in Italien zwei gegensätzliche Reaktionen hervorgerufen: Auf der einen Seite diejenigen, die ihn als ästhetisch und moralisch inakzeptables Werk ablehnen; auf der anderen Seite diejenigen, die ihn lesen und umschreiben und neu erfinden (vgl. De Michelis 2017): Autoren vom Rang eines D'Annunzio, Papini, Pascoli, Landolfi, Celli, Pagliarani, Sanguineti und Scabia haben ihre Neuinterpretationen geliefert. Aber auch verschiedene Mytheme (der Pakt oder die Figur von Mephistopheles) haben auf unterschiedliche Weise die Werke von verschiedenen Schriftstellern auf der Halbinsel bevölkert, ebenso wie die englische Literatur, die neben dem Grundwerk, das explizit Faust von Christopher Marlowe gewidmet ist, zahlreiche prometheische und satanische Figuren aufweist, die sich auf den mythischen deutschen Alchemisten zurückführen lassen, vor allem in der Gestalt des Helden-Bösewichts, von Richardsons Lovelace bis zu den Figuren der gotischen Romane von Lewis, Maturin und Radcliffe. Von dieser Tradition geprägt, verwandelt sich der Faust-Mythos in die Gothic Romance der amerikanischen Literatur, von Brockden Brown bis zu Hawthorne, der in The Scarlet Letter, der nicht zufällig als „puritanischer Faust“ bezeichnet wird, den Pakt mit dem Teufel in einen puritanischen Kontext überträgt, bis zu Melville und Twain. Die Hybris ist völlig verkörpert im Kapitän Ahab und sogar, so Leslie Fiedler, im Protagonisten von Huckleberry Finn, der lieber in der Hölle enden würde, als den Sklaven an seinen Herrn zurückzugeben. Fiedler meint weiter, dass sich der gotische Strang, den der Faust-Mythos kreuzt, in der amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts von William Faulkner bis Truman Capote fortsetzt.

Die hier angeführten Beispiele erschöpfen gewiss nicht die Verbreitung des Faust-Mythos, denn seine Überarbeitung durchzieht auch andere europäische und außereuropäische Literaturen und öffnet sich der Reflexion in der Musik-, der Kunst- und im Film. Der Faust-Mythos hat Musiker (von Berlioz, Schumann und Gounod bis Boito und Busoni), Regisseure (von Murnau über Brian De Palma bis Sokurov), Maler und sogar Bildhauer inspiriert. In diesen Werken steht die Figur des Faust im Dialog mit den zentralen Themen der Moderne: Wissenschaft und Technik, Macht und Ethik, das Streben nach dem Absoluten und die Kompromisse der Realität.

Der Faust-Mythos beschränkt sich übrigens nicht auf die europäische Tradition. Der Mythos hat Schriftsteller, Künstler und Denker auf der ganzen Welt inspiriert, wobei er oft neue und unerwartete Konnotationen annimmt. Von theatralischen Neuinterpretationen in Asien über postkoloniale Erzählungen in Afrika bis hin zu postmodernen Überarbeitungen in den digitalen Medien bietet Faust eine Vielzahl von Lesarten. Er ist ein Symbol der Rebellion, des Verderbens und der Erlösung und wird zu einem Objektiv, durch das sich Veränderungen in Gesellschaft, Philosophie und Kunst beobachten lassen.

Die Literaturzeitschrift INTERARTES lädt zur Einreichung von Artikeln für eine Sonderausgabe zum Thema „Faust, der Mythos der Moderne“ ein. Das Ziel ist es, die Entwicklung einer zentralen Figur der westlichen Kultur zu erforschen, die keine Signale von einem Abbruch des Dialogs mit der Gegenwart zeigt.

Die Vortragsvorschläge können den Mechanismus der Regeneration der Legende untersuchen, sowohl in Bezug auf die Interpretation als auch auf die Medien, wobei nicht nur die Literatur, sondern auch die Musik, die Kunst, das Kino, die Comics oder die digitale Erzählformen erforscht werden.

Artikel und Vortragsvorschläge, die nur als Beispiel dienen, können folgende Themen betreffen:

  • Verwandlungen, Umdeutungen und Neuschreibungen des Mythos zwischen dem 20. Jahrhundert und der Gegenwart.
  • Umgestaltungen (z.B. in Musik, Film oder Comics).
  • Neuinterpretationen und Umdeutungen im Hinblick auf zeitgenössische Themen wie Technologie, Ökologie und Globalisierung.
  • Parodie

 

Die Themen, aus denen sich der Mythos konstituiert, werden in den verschiedenen Epochen seiner Entwicklung mit unterschiedlichen Akzenten dekliniert:

 

  • Hexerei
  • Die Gefahren des Wissens
  • Machtstreben
  • Der Wunsch nach ewiger Jugend und seine Kehrseite, die Angst vor dem Alter
  • Die Faszination des Bösen
  • Individualismus
  • Die Überschreitung von Grenzen


Einreichungsmodalitäten

Die vorgeschlagenen theoretischen oder analytischen Texte müssen unveröffentlicht und im Word-Format verfasst sein, den redaktionellen Richtlinien der Zeitschrift entsprechen , die auf der Website verfügbar sind und einer Doppelblindbewertung unterzogen werden.

Akzeptierte Sprachen: Italienisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Spanisch.

Die Artikel sollten zusammen mit einem kurzen bio-bibliografischen Hinweis bis zum 30. Juli 2025 an die folgende E-Mail Adresse geschickt werden: interartes@iulm.it.


 

Bibliographische Hinweise:

 

Ida DE MICHELIS (2017), Il viaggio di Faust in Italia. Percorsi di ricezione di un mito moderno, Viella, Roma.


Hans-Joachim KREUTZER (2003), Faust. Mythos und Musik, Beck, München.


Franco MORETTI (1995), Opere mondo. Saggio sulla forma epica dal Faust a Cent'anni di solitudine, Einaudi, Milano.


Paolo ORVIETO (2006), Il mito di Faust. L’uomo, Dio, il diavolo, Salerno editrice, Roma.


Francesco ROSSI (2023), Memoria storica, memoria letteraria e critica del presente nel Doktor Hoechst di Robert Menasse, Caietele Echinox, 44, pp. 308-321.


Ludger SCHERER (2001), “Faust” in der Tradition der Moderne: Studien zur Variation eines Themas bei Paul Valéry, Michel de Ghelderode, Michel Butor und Edoardo Sanguineti : mit einem Prolog zur Thematologie, Peter Lang, Frankfurt am Main.


John William SMEED (1975), Faust in Literature, Offord University Press, London-New York-Toronto.


Ian WATT (1998), Miti dell’individualismo moderno. Faust, don Chisciotte, don Giovanni, Robinson Crusoe, Donzelli, Roma.


Luca ZENOBI (2013), Faust. Il mito dalla tradizione orale al post-pop, Carocci, Roma.




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